Juni/Juli 2023

Erst Alster-Staudamm (1235), dann Flanier- meile für heiratswillige Töchter (ab 1665) und erste asphaltierte Straße in Deutschland (1838): Der Jungfern- stieg hat eine bewegte Geschichte hinter sich – und ist seit 2020 wieder fast autofrei. Foto: circa 1900. Meilen- steine 1273: Steinstraße: Erste gepflas- terte Straße in Hamburg 1844: Eröffnung Bahnhof Altona 1866: Erste Pferdebahn 1867: Tidehafen am Sandtor 1887: Neue Elbbrücke (1970 Verbreiterung) 1906: Eröffnung Hauptbahnhof 1911: St. Pauli Elbtunnel 1912: U-Bahnring Barmbek 1960: Ost-West- Straße 1965: Gründung des HVV 1974: Köhlbrand- brücke 1974: Neuer Elbtunnel JAN FREITAG hebt der erste Zeppelin in Fuhlsbüttel ab, und 1928 teilen sich 29 600 Kraftfahrzeuge Hamburgs Straßen mit Straßenbahnen und Pferdekutschen. Aber noch sind Autos nicht dominierend ... Die autogerechte Stadt Das ändert sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs radikal. Die Zeit des Wiederaufbaus, weiß Christoph Färber von der Handelskammer-Abteilung für Stadt- entwicklung, wird schließlich „nach dem Titel eines 1959 erschienenen Buches des Architekten Bernhard Reichow mit der ,autogerechten Stadt‘ verbunden“. Während Hoch- und S-Bahn zusehends unter Tage pendeln, verändern Individual- und Lastverkehr komplett das Stadtbild. Industrie und Handwerk wandern in die Peri- pherie, Tangenten und Zubringer zerteilen ganze Viertel. Das neue Prinzip der „polyzentrischen Stadt“ denkt Wohn-, Arbeits-, Geschäftsquartiere um Ver- kehrsknoten herum. Die Zukunft hat vier Räder und mehr, nicht selten mit Reifen der Harburger Phoe- nix-Werke. Zehn Jahre, bevor die Ost-West-Straße Hamburgs City vom Hafen abschneidet, vergleicht der Landesplanungsbeauftrage Heinrich Stroh- meyer Asphaltierungsmaßnahmen folgerichtig mit Operationen. Wie bei jedemEingriff, schrieb er 1950, lasse „sich nicht vermeiden, dass hier und da gesun- des Fleisch zumOpfer“ falle. Die Straßenbahn etwa. Schon 1958 besiegelt der Senat ihr Aus. Zu träge, zu alt, zu gefährlich – und überhaupt: dauernd dem Auto im Weg. Denn als 20 Jahre später die Linie 2 letztmalig von Schnelsen zum Rathausmarkt fährt, ist Hamburg nicht nur au- tomobil, sondern fast autoversessen. Eine der rund 2500 Brücken der wasserreichen Stadt trägt seit 1974 täglich etwa 30 000 Fahrzeuge über den Köhlbrand zur A7, die das – mit Druckluft gebohrte – Baudenk- mal St. Pauli Elbtunnel flussaufwärts zeitgleich in drei, heute vier Röhren ersetzt. Weiter östlich wird kurz zuvor die Neue Elbbrü- cke, Baujahr 1887, zur noch neueren Brücke verbrei- tert, um den stetig wachsenden Autoverkehr zu be- wältigen. Nach der Gründung des weltweit ersten Verkehrsverbunds HVV 1965 erfolgt zwar ein Ausbau des ÖPNV. Allerdings meist unterirdisch, dort, wo er sich die Stadt nicht nur mit der Kanalisation, son- dern auch mit Bauten wie dem Wallringtunnel teilt, der seit 1966 oberirdische Kreuzungen entlastet. Besser: entlasten sollte. Denn obwohl sich Hamburg seit 1945 geradezu zubetoniert, ist die Stadt nach München und Berlin Deutschlands Staustadt Nr. 1. Bisher zumindest. Noch bewegen sich Mensch und Material in Hamburg auf den letzten fünf Kilo- metern meist automobil, wie Mario Bäumer vom Museum für Arbeit bemängelt – und „Metropolen wie London oder Paris sind deutlich radikaler“. Doch auch in Hamburg tut sich etwas, um „die Interessen aller Verkehrsteilnehmer stärker zu vereinbaren“, so Kammerexperte Färber. Von Veloroute und Fußgän- gerzone bis Carsharing oder A7-Deckel gräbt die Stadt dem klimaintensiven Individualverkehr den Asphalt ab. Langsam, aber nachhaltig. HAMBURGER-WIRTSCHAFT.DE 50 FOTO: PICTURE ALLIANCE DPA/ARKIVI VERKEHRS GESCHICHTE

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