JUNI/JULI 2021

HAMBURGER WIRTSCHAFT 50 ILLUSTRATION: MARIO WAGNER Die Strategie „Hamburg 2040: Wie wollen wir künftig leben – und wovon?“ entwickelt Zukunftsvisionen für die Hansestadt. Diskutieren Sie mit unter: www. hamburg2040.de Auch der Innovati- onsausschuss unserer Kammer will Impulse setzen für einen wettbe- werbsfähigen und innovativenWirt- schaftsstandort – nähere Infos unter www.hk24. de/innovations ausschuss Uve Samuels, CEO des Square Innova- tion HubWeitblick, sagte in der HW schon vor 20 Jahren die Digitali- sierung voraus – und war auch ein guter Ratgeber für diesen Ausblick ins Jahr 2040. Da Fortschritt nie linear, sondern exponentiell ver- läuft, seien auch Utopien denkbar – vorausgesetzt, Demokratie, Liberalismus und Weltklima bleiben stabil. Sanitärsoftware bereitet derweil das Abwasser vom Vortag fürs Duschen auf und kocht Tessas Tee mit Kondenswasser aus der Obstplantage imKeller. Auf an die Arbeit! Die Poly- merfolie der transparenten Zimmerdecke stellt das Licht- und Raumklima passend ein; Tessas Neurotransmitterspiegel zeigt an, dass sie bereit ist, ihre digitalen Nachrich- ten-Abos abzurufen. Der kabel-, papier- und pass- wortfreieNetzanbieterwirft die Infos auf dieWände: Die europäische Ethikkommission, erfährt Tessa, hat erneut die Zulassung eines Implantats für eine Gehirn-Computer-Schnittstelle abgelehnt. Denn die einflussreiche Generation 90+ ist weiter dagegen. Nun ja, der schillernde Unternehmer hinter dem Implantat ist Risiken und Rückschläge seit der Ein- führung von E-Autos vor über 20 Jahren gewohnt ... Schnittstelle zwischen Körper und Rechner bleibt also Tessas Datenarmband, das sie vibrierend an den Holodoc-Termin erinnert. Wenn sich die Teil- nehmendenper Iris-Scan im„FoundersRoom“ einlog- gen, sortiert der Algorithmus alle Informationen vor – und avisiert Firmen, diemarken-, patent-, finanz- und verwaltungsrechtlich geprüft wurden. Bald steht die Entscheidung fest: Fast 100 Millionen Euro Startkapi- tal wollen ein ruandischer Staatsfonds und der Bio- tech-Cluster des neuen Nordlandes „NSH“ (Nieder- sachsen/Schleswig-Holstein/Hamburg) beisteuern. Die Landeshauptstadt Hamburg garantiert dafür Ho- lodoc-Dependancen inBremen, EutinundKigali. Für den Abschluss wäre zwar kein physisches Treffen nötig, doch bei Verträgen ist Tessa noch den 2020ern verhaftet. So verabreden sich alle Partner in drei Stunden zum Lunch in der Genfer WHO- Zentrale – im postfossilen Zeitalter ein Katzen- sprung. Zum nächsten Drohnen-Port am Bahnhof fährt Tessa mit ihrem Hybrid-Fixie, einem High- tech-Eingangrad aus einer der 150 Manufakturen, die Hamburg zur Radmetropole machen. Auf dem Weg teilt sie sich die dicht begrünte, dank Fahrzeug- vernetzung ampelfrei gesteuerte City praktisch nur mit Zweirädern. Privatautos gibt es kaum, und falls doch, dann solar- oder wasserstoffbetriebene Sha- ring-Modelle, die den Begriff von Verkehr und Be- sitz radikal verändern – allein die Kfz-Steuer kostet monatlichmehr als ein Jahresabo des Multicopters, mit demTessa 20Minuten später nach Genf fliegt. Dank der Verlagerung des Fernverkehrs in die Luft ist der Hauptbahnhof inzwischen ein Work-/ Life-Space mit unterirdischem Gemeinschaftsgar- ten. Als sie ihr Fahrrad biometriegesichert dort ab- schließt, landet gerade ihr Flugtaxi. 75 Sekunden später steigt es in Schallgeschwindigkeit auf 5000 Meter, wo die Europäische Agentur für Flugsicher- heit (EASA) Abermillionen von Drohnen fast rei- bungslos koordiniert. Unfälle gibt es so wenig wie Emissionen. Globale Algorithmen garantieren, dass kein Meter ohne Transportgut oder Reisende zu- rückgelegt wird. Der dauernde Datenabgleichmit In- dustrie, Handel, Logistik und Dienstleistung hat Deutschlands Bürokratie zumMotor der hypermobi- len Gesellschaft gemacht, die das Internationale Ab- kommen zur informationellen Selbstbestimmung zwar nicht lückenlos, aber besser schützt denn je. Auf dem 48-minütigen Flug kontrolliert Tessa das Wochendossier ihrer Krankenkasse und alle Knotenpunkte auf Datenlecks, bevor sie nach dem Essen von Genf nach Hause fliegt und Feierabend macht. Aber was heißt schon Feierabend? Im 13-köpfigen Holodoc-Team etwa dauern die Tage er- gebnisabhängig mal drei Stunden, mal 13. Aber auf keinen Fall mehr, als der per Pflaster in Tessas Ach- sel platzierte Digitalsensor als invasive Schnittstelle zumSmart-Wrist erlaubt. Und heute ist Entspannung gefragt: Das Pflaster lädt Körperdaten in Tessas Cloud hoch, und die Soft- ware kombiniert daraus ein regionales Menü, dessen Zutaten der Lieferroboter des US-estnischen Welt- marktführersmit Deutschland-Zentrale inHamburg nach 17Minutenbringt. DennBülentmöchte kochen. Derweil präsentiert das System Vorschläge für den Abend. Vielleicht ein Theaterbesuch? Nein, Tessa braucht etwas Ruhe. Und vieles lässt sich in- zwischen auch digital verfolgen. Denn die Schwei- nepestpandemie sitzt allen noch in den Knochen: Software-gestützt war zwar schnell ein Impfstoff zusammengesetzt, aber mit der Verteilung haperte es – und Live-Events waren lange Zeit verpönt. Außerdemsteht heute Fußball an! Also schicken Bülent und Tessa ihre Avatare in die Umkleidekabine der Shopping-App „Organic Clothing“ und schauen das Champions-League-Finale im E-Soccer, wo der HSV vor 250 Millionen Zuschauern spielt. Nach dem Abpfiff um neun wird der Licht- und Lärmpegel auf Mitternacht gedimmt. ImBett geht esweitermit dem „Private Personal Podcast“ eines lokalen Start-ups, das die Stimmen ihrer Lieblingsstars per KI zur indi- viduellenGutenachtgeschichtemoduliert. Die Küche reinigt sich derweil selber, Restmüll wird für den integrierten 3-D-Drucker recycelt, der Algorithmus hat alles im Griff. Tessa hört davon nichts. Ihr Schlaf wird digital optimiert. Das muss er auch. Um vier ist Meeting in Kigali. Und um elf muss Oma zumArzt. Analog. Noch. JAN FREITAG redaktion@hamburger-wirtschaft.de ZEIT REISE hamburg2040_de_print.indd 1 10.11.20 16:07

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