APRIL/MAI 2021

WWW.HK24.DE 47 FOTOS: SHMH, ELKE SCHNEIDER, PATRICK RUNTE ZEIT REISE mus ist hier seit jeher wichtiger als Nationalismus.“ Obwohl Hamburg stets gut an Rüstung verdiente, „regiert man liebermit Verträgen alsWaffen“. Wer Hamburgs Werdegang zum „Tor zur Welt“ betrachtet, stößt abseits aller Flammen und Keime, Bomben und Fluten, Armeen und Freibeuter auf mannigfaltige Faktoren, die keinesfalls nur auf kurze Eruptionen, sondern auf Evolutionen zurückgingen. Und vielen davon lagen wirtschaftliche Ideen zu- grunde – das weiß auch Historiker Dr. Ralf Wiech- mann. Abgesehen von seiner „topografischen Lage am europäischen Strom mit ausgedehntem Hinter- land, einer Handelszone, die früh alsWertevermittler zwischen Nord- und Ostsee ausgebaut war“, sorgten Hamburgs Kaufleute aus Sicht des stellvertretenden DirektorsdesMuseums fürHamburgischeGeschichte seit jeher persönlich für besteHandelsbedingungen. Mit der Gründung der Börse (1558), der Girobank (1619) und der Handelskammer (1665, als „Commerz- Deputation„) „ging die Stadt“, so Wiechmann, „vom Warentausch zur Warenwirtschaft über“. Das Ende gefährlicher Geldtransporte habe Hamburg zum wichtigsten Kapital-, Währungs- und Kreditplatz diesseits italienischer Stadtstaaten gemacht. Ein Boom, der viel mit strategischem Geschick der Kauf- leute und Politiker in Personalunion zu tun hatte. „Wenn Dänemarks König Steuern oder Truppen for- derte, zählten sich die Hamburger zum Deutschen Reich, wenn dessen Kaiser kam, behaupteten sie das Gegenteil.“Wiechmann lacht: „Sehr clever.“ Und reizvoll. Wegen der Kunst, Frondienste zu meiden, habe sich die Stadt – zumindest bis 1933 – „nie freiwillig in Abhängigkeit begeben“, schwärmt auch Kollege Sven Tode von seiner Heimat. Aber selbst als sie infolge der französischen Okkupation 1806 unfreiwillig hineingeriet, erhöhte sie Hamburgs Anziehungskraft. Für ein freies Schussfeld mag Na- poleon halb St. Pauli, wo bereits ein liberales Klima herrschte, planiert haben; doch erst sein „Code civil“ schuf dank Gewerbefreiheit und Gewaltenteilung eine Insel imMeer feudaler Repression, die Verfolgte, Entrechtete und Geflüchtete aus aller Welt – beson- ders Juden und Hugenotten – „angezogen und für In- novationskraft gesorgt hat“. Trotz restaurativer Rückfälle nach Abzug der Franzosen nahm der Aufstieg lokaler Handels­ dynastien wie den Godeffroys, den Sievekings und den Beiersdorfs nun richtig Fahrt auf. Eine Fahrt, die ihre Güter schon bald auf P-Linern der Reederei F. Laeisz unternahmen: „Hamborger Veermaster“, die Hamburgs Freihafen zum Hauptumschlagplatz für erlesene Waren machten – von Südfrüchten über Teppiche bis zu Salpeter. Eines dieser legen- dären Schiffe, die „Peking“, liegt heute als Denkmal imMuseumshafen (siehe auch HW-Ausgabe Dezem- ber/Januar ab Seite 54). Dieser Weltgeltung konn- ten weder Stadtbrände noch Weltkriege, weder das dunkle Kapitel des Kolonialismus noch Deutsch- lands Teilung etwas anhaben. Hamburgs Stressresilienz zeigt sich daher auch imGriff der neuesten Katastrophe: ein Virus, das den Handel vom Geschäft auf die Straße treibt wie einst im Mittelalter, von der Ladentheke zum Amazon- Lkw sozusagen. Der Kreis schließt sich. Doch wer Hamburg kennt, spürt schon jetzt, dass er sich wie- der öffnen wird. „Unser Feld“, wusste schon der große Hamburger Sohn jüdischer Flüchtlinge, Al- bert Ballin, ist eben „dieWelt!“. GROSSE KAUF- LEUTE IN HAMBURG Jean Cesar Godef- froy (1742 bis 1818) flieht mit seinen hugenottischen Eltern aus La Rochelle und begründet mit seinem Bruder Pierre eine Dynas- tie bedeutender Kaufleute, Senato- ren und Reeder. Georg Heinrich Sieveking (1751 bis 1799) führt mit Caspar Voght eines der mäch- tigsten Handels- häuser seiner Zeit, fördert aber auch die Gedanken der Aufklärung. Paul Carl Beiers- dorf (1836 bis 1896) lässt sich 1880 in Hamburg als Apotheker nieder und legt mit Patenten für Wundpflaster den Grundstein für die Beiersdorf AG. Albert Ballin (1857 bis 1918) ist einer der wichtigsten jüdischen Unter- nehmer imKaiser- reich, macht die HAPAG zur größ- ten Schifffahrtslinie ihrer Zeit und Ham- burg zur maritimen Weltmacht. JAN FREITAG redaktion@hamburger-wirtschaft.de Dr. Ralf Wiechmann leitet den Bereich Mittelalter/Frühe Neuzeit amMuseum für Hamburgische Geschichte Pragmatismus ist in Hamburg seit jeher wichtiger als Nationalismus. Hier regiert man lieber mit Verträgen als Waffen. SVEN TODE

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