Dezember 2022/Januar 2023

Willkommen im Schloss Vor 125 Jahren bauten sich Hamburgs Honoratioren direkt neben der Handelskammer ein neues Rathaus, das die Nähe von Wirtschaft und Politik einmal ohne hanseatisches Understatement zeigte. Nachdem das alte Rathaus an der Trostbrücke dem Großen Brand von 1842 zum Opfer gefallen war, entstand ein halbes Jahrhun- dert später in unmittelbarer Nachbarschaft zur Handelskammer ein neues Rathaus. Zum 125. Geburts- tag des Hambur- ger Rathauses ha- ben HW-Fotograf Michael Zapf und Rita Bake im Auf- trag der Landes- zentrale für politi- sche Bildung einen reich bebil- derten, gut re- cherchierten Ju- biläumsband he- rausgegeben: „Das Hamburger Rat- haus. 125 Jahre – 125 Geschich- ten“. Auf 272 Sei- ten (26 Euro) wer- den darin nicht nur Architektur und Inneneinrich- tung, Gebäude- und Umgebungs- geschichte darge- stellt, sondern auch das „Who’s Who“ der mehr oder weniger il- lustren Gäste so- wie Gastgeberin- nen und Gastge- ber. Sie reichen vom vergessenen Bauarbeiter bis zum letzten deut- schen Kaiser, von Schulklassen bis Reisegruppen, von Königin Elisabeth II. bis Bundespräsi- dent Frank-Walter Steinmeier, von Uwe Seeler bis Udo Lindenberg. hatten, holte sie der Hamburger Architekt Martin Haller erst 1886 nach und schuf ein Prachtexemplar im Stile der norddeutschen Neorenaissance. Doch die Handelskammer im Rücken, die das Feuer fast unbeschadet gelassen hatte, war Understatement of­ fenbar ähnlich unangemessen wie die räumliche Trennung vomHandelsherz der Stadt. Wobei sich die Nähe von Wirtschaft und Politik nicht nur im gemeinsamen „Ehrenhof“ zeigt. Sie steckt überall. Die Fassade zum Beispiel zieren zwar 20 Kaiser und neun Heilige. Von Bäcker und Bauer über Kaufmann und Makler bis hin zu Schiffer und Zimmermann bringen es die bürgerlichen Berufe al­ lerdings auf gerade einmal eine Skulptur weniger. Auch, dass im Inneren nicht nur Lehrlinge, sondern auch Frauen abgebildet wurden, widersprach dem damaligen Standesbewusstsein allmächtiger Män­ ner undwar damit seiner Zeit voraus. Doch wer die Porträts der 20 verstorbenen Bür­ germeister seit Rathauseröffnung betrachtet, sucht – wie unter den acht lebenden – vergebens nach weib­ lichen. Aber das könnte imWandel begriffen sein. Die aktuelleBürgerschaft, lobt derGuide imPlenarsaal, sei 2020 das jüngste Landesparlament Europas gewesen und der Frauenanteil mit 41 Prozent überdurch­ schnittlich. Die Zeiten, sie ändern sich auch imMonu­ ment einer Epoche fortwährenden Wachstums, der Hamburg groß, reich und mächtig machte. So groß, reichundmächtigwie ihr bürgerliches Schloss. D er Fremdenführer, das muss man ihm lassen, zeigt Gespür fürs hanseatische Selbstbe­ wusstsein. „Willkommen im Schloss“, sagt er beim Rundgang durch die heiligen Hallen Hambur­ ger Politik und grinst seinem Publikum süffisant zu. Denn natürlich soll das Rathaus – Mahagoni, Mar­ mor, Gemälden zum Trotz – das genaue Gegenteil feudaler Herrschaftssitze sein. Ein Ort „freier Meinungsäußerung“, wie Bürger­ meister Johannes Versmann bei der Einweihung des Gebäudes am 26. Oktober 1897 sagte, Sandstein ge­ wordener Beleg kaufmannsstolzer Eigenständigkeit, die sich als Antithese aristokratischer Erbmonar­ chien verstand. Wer 125 Jahre später das Kreuzge­ wölbe des Foyers durchschreitet, zur Bürgerschaft emporsteigt und zwei, drei Türen hinter sich lässt, betritt hingegen etwas, das der Guide als „Pfeffer­ sack-Geschmack“ bezeichnet. Kaisersaal, Bürgermeistersaal, Festsaal – staats­ politisch mögen sich die freskendekorierten, blatt­ goldbeschlagenen, tropenholzgetäfelten Räume vom herrschenden Hochadel umliegender Fürstentümer und Königreiche emanzipieren; ästhetisch zeigen sie, was der Hansestadt wichtiger war als freie Mei­ nungsäußerung: allerWelt ihrenAufstieg aus Ruinen zu zeigen. Diese lag schließlich ein halbes Jahrhun­ dert zuvor in Trümmern. Gut 1800 Gebäude fielen demGroßen Brand von 1842 zumOpfer, darunter das alte Rathaus an der Trostbrücke. Weil Streiks und Revolution, Cholera und Reichsgründung die Grundsteinlegung verzögert JAN FREITAG 12 FOTO: MEDIASERVER HAMBURG/DOUBLEVISION HAMBURGER-WIRTSCHAFT.DE

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