Oktober 2019

HAMBURGER WIRTSCHAFT 18 FOTOS: TESA SE/HENRIETTE POGODA, MATTHIAS DAHL; AUFGEZEICHNET VON SANDRA GOETZ KONTROVERS DISKUTIERT Fördert allgemeines Duzen das Betriebsklima? PRO KONTRA Duzen oder Siezen: Was ist im Büro üblich? Laut einer repräsentativen Umfrage des Jobportals Indeed waren 2016 bereits 70,4 Prozent der Werktätigen mit ihren Kollegen per Du, nur 3,8 Prozent generell per Sie. Bei 13,1 Prozent wechselte die Anrede je nach Gesprächspartner. In über der Hälfte der Unternehmen war zudem die Anrede für alle gleich – egal, ob es sich umAnge­ stellte oder Vor­ gesetzte handelte. Hierarchien überwinden Gunnar von der Geest (54) Stellvertretender Leiter Unternehmens­ kommunikation bei der tesa SE, Norderstedt Richtig alt habe ich mich mit Anfang 20 gefühlt – als Skilehrer. Eine 16-jährige Schülerin fragte höflich: „Herr von der Geest, könnten Sie mir bitte noch mal den Stemmbogen zeigen?“ Ich erklärte ihr, dass es zwei gute Gründe für ein „Du“ gibt. Erstens sei ich kaumälter als sie. Zweitenswürde aus Prinzip ab 1000 MeternHöhe niemand gesiezt werden. Doch die junge Frau kostete es sichtlich Überwindung, „einen Er- wachsenen zu duzen“. Heute ist die Konversation zum Glück einfacher. Wer täglich viel Zeit in Social-Media- Kanälen verbringt, für den ist „Sie“ ein Fremdwort. Mit der zunehmenden Digitalisierung und Glo- balisierung ist auch bei tesa der Grad der „Duzialisie- rung“ deutlich gestiegen. Unsere Regel hinsichtlich der „korrekten“ Anrede lautet: Es gibt keine. Bei uns duzen sich teils Kollegen vom ersten Mo- ment an, die etliche Alters- und Karrierestufen tren- nen. Teils bleiben Kollegen einer Ebene auch nach ei- ner halben Ewigkeit beim formellen „Sie“, weil sie es im beruflichen Kontext passender beziehungsweise professioneller finden. Und dies ist auch gut so! Dass sich das „Du“ bei tesa evolutionär durchzu- setzen scheint, hat mehrere Ursachen: Einerseits sind von denmehr als 5000 Kollegen, die weltweit für unseren Technologiekonzern tätig sind, nur etwa die Hälfte deutsche Muttersprachler. Ein „You“ ist inso- fern bereits der halbe Weg zum „Du“. Andererseits wird es immer wichtiger, dass in dynamischen Ar- beitsumfeldern wie agilen Projektstrukturen schnell Entscheidungen getroffenwerden – und zwar keines- wegs nur von Führungskräften. Das „Du“ hilft hier durchaus, Hierarchien zu überwinden. Doch solch ein Kulturwandel lässt sich nicht per Stichtag verordnen nach dem Motto: Ab 1. Ja- nuar sind wir alle lockerer, duzen uns und kommen mit Sneakern ins Büro … AmAnfang steht ein „Sie“ Diplom-Psychologe Thomas Leschig (63) Geschäftsführender Gesellschafter relations GmbH, Hamburg Der Anfang eines Kennlerngesprächs ist immer ein „Sie“. Sowohl von potenzieller Kundenseite wie auch von meiner. Natürlich ist die Frage, ob man heute duzt oder siezt, nicht mehr ganz so ausschließlich zu beantworten. Ich bemerke selber, dass immer schneller auf ein „Du“ umgestellt wird, und das nicht nur privat. Dennoch stehe ich für das „Sie“ als erste Wahl ein, denn es gibt mir die Möglichkeit der Frei- willigkeit. Jenseits von Social Media werden junge Menschen auch heute noch damit groß, dass sie mit einem einfachen sprachlichen Mittel Nähe und Dis- tanz und Respekt ausdrücken können. Dabei ist ein „Du“ etwas Vertrauensvolleres als ein formales „Sie“. Hierzumöchte ich ein Beispiel geben: Über meh- rereJahrehabeicheinProjektinderAutomobilindus­ trie begleitet, der Kunde und ich haben uns die ganze Zeit respektvoll gesiezt. Als das Projekt beendet und der Vertriebsdirektor Norddeutschland in Rente war, trafen wir uns wieder – und duzten uns. Nun weiß man, dass die Automobilbranche wie manch andere von Haus aus sehr viel konservativer ist als zum Bei- spiel die TV- undMedienbranche oder Start-ups. Das Deutsche hat aber nun mal nicht die sprachliche Gleichheit wie das Englische, in dem „You“ entweder „Du“ oder „Sie“ heißen kann und viele glauben, dass jedes gesprochene „You“ automatisch ein „Du“ ist. Wie gesagt, ich finde es gut, dass die deutsche Sprache diese Alternative zulässt. Vor allem, wenn es um betriebliche Zusammenarbeit geht, denn dazu gehören auch externe Dienstleister. Dass Aus- nahmen die Regel bestimmen, macht es in einer Zeit des Wandels sehr spannend. Wenn man zum Beispiel nach einem erfolgreichen Projekt in der Baubranche geduzt wird, gehört man dazu, das gilt als großer Erfolg. Trotzdem kann ich auch hier aus Erfahrung sagen: AmAnfang steht ein „Sie“.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz