August/September 2024
Eher gestrandet als gelandet Von den englischen Tuchhändlern der Neuzeit über die „Gastarbeiter“ der 1960er bis zu den heutigen Flüchtlingen: Immigration hat Hamburg entscheidend geprägt. Links ist der damalige Alsterpavillon zu sehen, in dem der Franzose Augustin Lancelot de Quarte Barbes 1799 die wahrscheinlich erste Eisdiele Deutschlands eröffnete. burg endeten. Ab 1580 zumBeispiel kamenportugiesi- sche Juden. Doch während sich Hamburgs Kaufleute auf umgekehrter Route in Portugal „integrierten und wirtschaftlich oft sehr erfolgreich“ waren, wie die His- torikerin Jorun Poettering schreibt, blieben ihre Kol- legen aus Portugal benachteiligt und isoliert. Es gab zwar Gewinner wie Jacob Curiel, der sich um 1627 inHamburg niederließ und von dort ausWaf- fen an die spanische, später portugiesische Krone lie- ferte. Doch niederländische Händler waren nicht nur akzeptierter als portugiesische, sondern auch erfolg- reicher als alteingesessene. Damals, so belegen Bank- daten, wurde nur ein Sechstel der städtischen Han- delsumsätze durch Hamburger erwirtschaftet, was ungefähr ihrem Anteil an der Kaufmannschaft ent- sprach. Auf Niederländer entfiel fast dieHälfte. Hamburg ist eben seit Hansezeiten ein globali- sierter Schmelztiegel, der Menschen aus aller Welt anzieht. 1200 Hugenotten zum Beispiel, die 1572 in- folge der Bartholomäusnacht aus Frankreich kamen und – wie das alte Reedergeschlecht Godeffroy – tiefe Spuren in Hamburg und Altona hinterließen. Nach der Französischen Revolution bat eine fünfstellige Zahl Geflüchteter um Schutz, den das Bürgertum trotz Wohnungsnot und Adelsklischees gern ge- währte. Mit Folgen. Die Neuankömmlinge hatten ihr „Savoir-vivre“ im Gepäck. Sie eröffneten Geschäfte, Theater oder Cafés – darunter 1799 diewohl erste Eis- diele Deutschlands – oder versammelten sich beim Schweizer Pierre François Fauche, der die Stadt etwa mit der Zeitschrift „Spectateur du Nord“ zum Zen trumder Emigrationspublizistikmachte. Die Besetzung der Stadt durch napoleonische Truppen im Jahre 1806 hinterließ neben Verwüstun- gen und neuen Gesetzen auch kulturelle Spuren – vom eingedeutschten „Tschüss“ (entlehnt von „adieu“ und „adiós“) über das Franzbrötchen bis hin zu den neu eingeführtenHausnummern. Ein städtesoziologi- scher Fußabdruck, den die Binnen- und Außenmigra- tion im Zuge von Industrialisierung, Kriegen und US- Exil sonst allenfalls in St. Pauli zurückließ. Wo eine Gedenktafel und die „Hongkong-Bar“ an Deutschlands erstesChinatownerinnern, warenEnde des 19. Jahrhunderts See- und Geschäftsleute aus Fernost sesshaft geworden, deren Tanzlokale, Gar küchen und Waschsalons vor der Räumung durch die M igration undHandel – in einer Hafenstadt ist beides seit alters her verbunden. „Der Fremde“, schreibt der Philosoph und Sozio- loge Georg Simmel schon 1908, erscheine „allenthal- ben als Händler“ und umgekehrt. Grenzüberschrei- tender Menschen- und Güterverkehr seien unzer- trennlich. Nicht nur, aber ganz besonders auch in Hamburg, wo beides wie Elbe, Michel und Kauf- mannsstolz Teil der lokalen DNA ist. Wann sichFachkräfte erstmals anAlster undElbe ansiedelten, ist schwer nachzuprüfen. Schon im Mit- telalter begann die Hanse damit, Geschäfte schriftlich zu dokumentieren. Lückenlose Personenregister je- doch gibt es erst seit der Neuzeit. Und so sind als erste Arbeitseinwanderer englische Tuchhändler belegt, die sich 1567 inHamburg niederließenund das nieder- deutsche Sprachbildnachhaltig anglisierten. In der gleichen Zeit wie diese damals als „Mer- chant Adventurers“ bekannten englischen Fernkauf- leute flohen zahlreiche gut situierte Protestanten aus den Niederlanden vor den Verwüstungen der Gegen- reformation in Richtung Osten. Ohnehin ist die Neu- zeit eine Ära religiöser Vertreibungen, die oft in Ham- HAMBURGER-WIRTSCHAFT.DE 54 FOTOS: LOKILECH/WIKIPEDIA/PUBLIC DOMAIN, LUDWIG JÜRGENS/FOTOMONTAGE 1930/ST. PAULI-ARCHIV E.V. RETRO SPEKTIVE
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz