August / September 2020

WWW.HK24.DE 27 STADT OHNE TOURISTEN FOTOS: ARIANE GRAMELSPACHER, PICTURE ALLIANCE/HOCH ZWEI JAN FREITAG redaktion@hamburger-wirtschaft.de Der Tourismus generierte 2019 in Hamburg acht Milliarden Euro Umsatz und 4,4 Milliarden Brutto- wertschöpfung (4,5 Prozent der Wirtschaftsleis- tung). Von den Umsätzen entfie- len 26 Prozent auf den Einzelhandel, 19 Prozent auf die Gastronomie und 14 Prozent auf das Beherbergungs- gewerbe, das 15,4 Millionen Übernachtungen verzeichnete (Deutschland: 495,6 Millionen). Weitere 9 Prozent des Umsatzes wurden im Frei- zeit- und Kultur- bereich inklusive Sport realisiert, 6 Prozent bei Straßen- und Nahverkehrsleis- tungen. Jeder 13. Euro Umsatz im deutschen Gastgewerbe (insgesamt 98 Milliarden) entfiel auf Hamburg. W er am1. Mai nachts umhalb eins über die Reeperbahn Richtung Landungsbrü- cken bummelte, bekam ein komisches Gefühl von Science-Fiction: kein Mensch in Sicht, wo sich sonst die Massen durchs Viertel drängen; nur nackter Asphalt, wo üblicherweise Autos Stoß- stange an Stoßstange stehen; Grabesstille, wo sonst Musik, Geräusche, Motoren die Luft erfüllen. So sah es aus imLockdown. Mit etwas Fantasie könnte es auch künftig so aussehen, falls Hamburg auf Dauer touristisches Sperrgebiet wäre. Eine Dystopie, zugegeben. Doch man könnte ihn ja mal durchspielen, diesen Traum aller Gegner von Menschenmassen. Und siehe da: Für Hamburg erweist er sich als Albtraum. Wenn der Hansestadt die Gäste fehlen, sind nicht nur die Straßen leer: Weit weniger Menschen gehen shop- pen und essen, inMuseen oder Clubs, zumHSV und zumHafen. Und weit weniger fahren Bus oder Taxi. Überall herrscht Ebbe in der Kasse. Die rund 15 Millionen Übernachtungen im Jahr 2019 spülten schließlich nicht nur dreistellige Milli- onenbeträge in Herbergsbetriebe jeder Art. Zusam- men mit 106 Millionen Tagestouristen trugen sie 4,4 Milliarden Euro (4,5 Prozent) zur Wirtschaftsleis- tung bei. „Der Tourismus ist zudem seit Jahren ein Treiber für die duale Ausbildung“, meint Handels- kammer-Experte Marcus Troeder. Vom House- keeping bis zur Bürokommunikation seien beson- ders die vielen Hotels „Einfallstore für alle“ – ob Menschen mit Behinderung oder Fluchthinter- grund, Hauptschulabschluss oder Bachelor. Beim Tourismus geht es ums Ganze Wenn also zwei von drei Besuchern ausbleiben, die Hamburg zum Vergnügen ansteuern, leiden darun- ter nicht nur die 415 größeren Beherbergungsbe- triebe. Ohne die Querschnittsbranche Tourismus ginge es für alle ums Ganze. Für den Einzelhandel etwa, das von E-Com- merce und Corona ohnehin gramgebeugte Rückgrat hanseatischen Kaufmannsstolzes: Gut zwei Milliar- den Euro pro Jahr lässt die auswärtige Kundschaft in Shops und Boutiquen. Allein auf den Flaniermei- len der City, schätzt Brigitte Nolte vom Handelsver- band Nord, sorgt sie für 20 Prozent der Umsätze. Und sichert allerorten Arbeitsplätze: Ob Sterneres- taurant oder Kellerkneipe, Musical oder Staatsbal- lett, Doppeldeckerbusse oder Stadtradverleih, Fuhlsbüttel oder Park Fiction – von der Tourismus- torte kriegt jeder sein Stückchen ab. Auch wenn bei einigen naturgemäß etwasmehr Sahne drauf ist. Wie an den Kreuzfahrtterminals etwa, von wo aus 2019 rund 810000 Passagiere auf 210 Schiffen die Stadt eroberten. Fester Bestandteil vieler Land- gänge: das Miniatur Wunderland mit 1,4 Millionen größtenteils auswärtigen Gästen. Geführte Stadt- rundgänge, Busrundfahrten, Besuche an den Lan- dungsbrücken und in der Elbphilharmonie ergänzen das Programm. Undwenn schonHamburgs sechs his- torische Museen 40 Prozent Auswärtsfans verzeich- neten, dürfte der Anteil Einheimischer unter den 3,63 Millionen Schaulustigen auf der Elphi-Plattform in der Saison 2019/19 nochmals geringer gewesen sein. Womit wir beim modernen Markenkern vom „Tor zur Welt“ im 21. Jahrhundert wären – der Kon- zert-, Event- und alternativen Clubkultur. Ein Aus- bleiben musikaffiner Gäste wäre das Ende der Party- landschaft. Reeperbahn Festival? Geschichte! Schla- germove? Beerdigt! Hafenfeste? Kirmesgröße! WirtschaftssenatorMichaelWesthagemannbefürch- tet den Abbau Zehntausender Jobs, zehnstellige Ein- nahmerückgänge – und dass Hamburgs Ruf „als mo- derne, gastfreundliche Metropole mit herausragen- der Lebensqualität ohne Gäste auf Dauer verblasst“. Als die Hansestadt am 1. Mai von Corona getrof- fen im Halbschlaf lag, war also ein Anflug jener Öd- nis zu spüren, die ihr ohne Touristen blüht. Eine Stadt mit weniger Wohlstand, Vielfalt, weniger Kre- ativität, Entertainment, Wirtschaftskraft. Es wäre zwar auch eine mit weniger Verkehr und Hektik, weniger Lärm, Müll und Emissionen. Vor allemaber hätte sie weit weniger von dem, was Gäste aus aller Welt hierherzieht: Leben. Einsame Landungs- brücken: Ohne Touris- mus wird Hamburg öde, leer – und arm

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