Juni/Juli 2024

Wir sollten uns wirklich darauf konzentrieren, dass es hier nicht um einen Kostenfaktor geht, sondern um eine Investition in die Gesundheit der Gesellschaft. Natürlich müssen wir die Frage einer nachhaltigen Finanzierbarkeit diskutieren und die Frage, wohin die Mittel fließen. Aber die Pharmaindustrie muss dabei mit am Tisch sitzen. Man kann nicht den Preis von Medikamenten isoliert betrachten. Man muss den Nutzen er- kennen, der sich aus der Vorbeugung, Behandlung oder sogar Heilung von Krankheiten ergibt. Man muss die Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Chancen für Patient:innen sehen, länger gesund zu bleiben und damit auch länger einen Beitrag leisten zu können. Es geht um einen ganzheitlichen Ansatz. Durch eine frühere Erkennung und Behandlung, also Präven- tion, können viele Ressourcen im Gesundheitswesen einge- spart werden. Nehmen wir wieder das Beispiel Niere. Wenn Medikamente verhindern, dass Betroffene mit einem Nieren- leiden über Jahre zur Dialyse müssen und schließlich eine Transplantation benötigen, ist das doch für sie wesentlich bes- ser und für das Gesundheitssystem viel preiswerter. Und zu- dem deutlich nachhaltiger für die Umwelt! In Deutschland fehlen ja immer wieder wichtige Medika- mente. Was kann man dagegen tun? Müssen wir die hiesi- gen Produktionsstandorte stärken? Das ist eine ziemlich komplexe Frage. Ich denke nicht, dass die gesamte Wertschöpfungskette in jedem Land abgebildet werden muss. Aber in Europa müssen wir sicherstellen, dass wir kriti- sche Medikamente für europäische Patient:innen liefern kön- nen. Wenn weltweit nur ein Lieferant einen bestimmten Wirk- stoff liefern kann, ist ein Engpass vorprogrammiert, wenn dieser Lieferant ausfällt. Wir brauchen eine Strategie zur Risikominde- rung einschließlich fairer Preise, um eine zuverlässige Versor- gung sicherzustellen. Hier sehenwir bereits gute erste Ansätze. Kann denn AstraZeneca derzeit jedes Medikament liefern? Unsere Lieferketten sind sehr robust und gut über ganz Europa, Asien und die USA verteilt. Daher haben wir keine Liefereng- pässe. Wir haben natürlich auch ein innovatives Portfolio – die größten Versorgungsprobleme sind bei Generika aufgetreten. Sie selbst waren in einer Reihe von Ländern tätig. Haben Sie dabei große nationale Unterschiede festgestellt? Jedes Landhat seine eigeneGesundheitspolitik. Aber fürmich ist der rote Faden, dass Gesundheit für uns alle wichtig ist. Das ist der gemeinsame Nenner bei allen kulturellen Unterschieden der Gesundheitssysteme. In Deutschland waren Innovation und frühzeitiger Zugang zu innovativenMedikamenten schon immer ein Schwerpunkt. Dies hat sich in den letzten Jahren leider ver- schlechtert, insbesondere durch das neue Gesetz. Ich bin jedoch optimistisch, dass wir unsere Führungsrolle wiedererlangen kön- nen. Wenn die Gesundheit an erster Stelle steht, gewinnen alle. Wir setzen noch viel zu sehr auf Papier, auf Fax und zu viel Bürokratie. Das ist eine verpasste Chance. 30 HAMBURGER-WIRTSCHAFT.DE Apropos Innovation: Wo steht Deutschland eigentlich bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems? Wir haben viele Möglichkeiten, die Digitalisierung zu be- schleunigen. Dabei geht es zum Beispiel um die Nutzung von Patientendaten für die Forschung und Entwicklung von neuen Therapien. Ich denke, die Europäische Unionmacht hier große Fortschritte. Auch in Deutschland haben wir große Ambitio- nen. Aber wir setzen immer noch viel zu sehr auf Papier, auf Fax und zu viel Bürokratie. Das ist eine verpasste Chance. We- niger als 25 Prozent unserer Gesundheitsdaten werden digital strukturiert erfasst. Nordische Länder sammeln fast alle Ge- sundheitsdaten auf einer sicheren digitalen Plattform. Ich habe jüngst an einem Gesundheitsgipfel mit Karl Lauterbach teilgenommen. Da sagte der Minister, dass sie an einer Platt- formmit sehr gutem Datenschutz arbeiten, die Zugriff auf me- dizinische Daten erlaubt. Das klingt gut. Aber wir müssen das beschleunigen. Wir sind im Rückstand. Ein paar Worte zu AstraZeneca. Warum sind Sie vor zwei Jahren von Wedel nach Bahrenfeld gezogen? Wir sind Norddeutschland treu geblieben. Aber wir wollten vor allem in einer Metropolregion angesiedelt sein, die Talente an- zieht und leicht zu erreichen ist. Jetzt liegt die nächste S-Bahn- Station nur ein paar Minuten entfernt. Viele Mitarbeitende kommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahr- rad. Das ist auch ökologisch sehr gut. Sie arbeiten hier nach dem Konzept „Activity Based Wor- king“ (ABW): Die Mitarbeitenden haben keinen festen Arbeitsplatz mehr. Was ist der Vorteil? Wie viele große Unternehmen wollten wir Büroräume schaf- fen, die einen energiegeladenen, lebendigen Ort zum Arbeiten und Zusammenarbeiten bieten – einen Ort, an den die Men- schen gerne kommen und der Möglichkeiten zur Interaktion und Diskussion bietet, denn so entstehen innovative Ideen. Ich fühle mich in unserem neuen Büro sehr wohl, das Feedback unserer Mitarbeitenden ist wirklich super. Alles ist modern, dynamisch, neu, digital und bietet uns viele Möglichkeiten für den Austausch. Der beliebteste Ort ist natürlich die Küche auf jeder Etage. Dort trifft man auch die Kolleg:innen, mit denen man nicht jeden Tag zusammenarbeitet. Das eigene Büro fehlt Ihnen also nicht? Das ist unsere Firmenpolitik. Wir haben keine Einzelbüros mehr, nicht einmal ich oder unser globaler CEO in Cambridge haben ein eigenes Büro. Wenn wir vertrauliche Besprechungen haben, bu- chen wir einen Besprechungsraum oder gehen in eine Kabine. Wir priorisieren Interaktion und Zusammenarbeit. Und wir bie- ten auch Homeoffice als Teil eines flexiblen Arbeitskonzepts an. Machen Sie davon auch Gebrauch? Ich binmeistens hier, weil ich bei meiner Arbeit hauptsächlich direkte Gespräche mit Menschen führe und es hier auch so mag. Aber auch ich arbeite, wenn ich nicht reise, mindestens einen Tag in der Woche oder alle zwei Wochen von zu Hause. Ich bin oft in ganz Deutschland unterwegs. Und ob Sie es glau- ben oder nicht: Manchmal ist die ruhigste Zeit, die ich habe, im Zug. Was leider daran liegt, dass die Internetverbindung nicht so gut ist, sodass ich weniger Meetings habe. Welche Schwerpunkte setzen Sie denn generell in Bezug auf Nachhaltigkeit? Wir haben eine sehr ehrgeizige Nachhaltigkeitspolitik. Wir wol- len bis 2026 bei unseren eigenen CO2-Emissionen neutral und bis 2030 entlang der gesamten Wertschöpfungskette CO2-nega- tivwerden. Dazu trägt unter anderemauchunser Projekt AZ-Fo- rest bei: Bis 2030 wollen wir weltweit 200 Millionen Bäume pflanzen. Wir müssen noch mehr tun, und dabei steht die Ver- meidung und Reduktion von Emissionen an erster Stelle. So ha- ben wir letztes Jahr ein großes Projekt gestartet und arbeiten gemeinsam mit unseren Lieferanten an mehr Nachhaltigkeit. Beim Verkehr setzen wir auf E-Mobilität. Bis Ende des Jahres wirdunsere Flotte vollelektrisch sein. ImMoment stehenwir bei 90 Prozent. Und wir nutzen innerdeutsch bei allen Strecken bis zu fünf Stunden nur den Zug. Wir nehmen das sehr genau und sind überzeugt, dass wir als führendes Unternehmen auch eine Verantwortung gegenüber unserer Umwelt haben. Lassen Sie uns zum Abschluss in die Glaskugel blicken. Wie sieht Gesundheit in 50 Jahren aus? Wir können uns noch gar nicht vorstellen, wie KI uns helfen und die Wissenschaft voranbringen wird. Ich bin überzeugt, dass wir viele verheerende Krankheiten werden heilen kön- nen. Die Gesundheitsfürsorge selbst wird sich dramatisch ver- ändern. So wird man weniger ins Krankenhaus oder in eine Arztpraxis gehen und eher in der Lage sein, sich zu Hause oder in seiner Gemeinde behandeln lassen. Und wir haben noch gar nicht über die Gentherapie gesprochen, mit der wir möglicher- weise das Entstehen von schweren Krankheiten verhindern können, wer weiß. Ich freuemich darauf zu sehen, was dieWis- senschaft für eine gesündere Gesellschaft tun kann! Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt. Alexandra Bishop im Gespräch mit Peter Wenig 31 HAMBURGER-WIRTSCHAFT.DE PERSÖNLICH ALEXANDRA BISHOP

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